"die utopie ist tot,
es lebe die utopie!"

Stefan Krempl, Berlin, Februar 2004

Die Utopie, angeblich auf dem Scheiterhaufen der Geschichte gelandet, erlebt am Anfang des 21. Jahrhunderts eine unerwartete Renaissance aus dem Geiste von '68. Nach dem Fundament für einen menschlichen Gottesstaat in einer globalisierten Welt ohne Transzendenz suchte der italienische Alt-68er und "Empire"-Autor Antonio Negri auf der transmediale.04 Ende Januar in Berlin. Der dort versammelten hippen und jungen Internationale erzählte er eine wunderschöne Geschichte über die wahren Bedürfnisse der Menschheit.

Der Run auf den in Italienisch gehaltenen Vortrag Antonio Negris (www.antonionegri.com) war so groß, dass die Kopfhörer für die Simultanübersetzung bei weitem nicht ausreichten und die Veranstaltung erst mit einer knappen Stunde Verspätung losging. "Die echte Utopie" sah der langjährige führende Kopf der italienischen Linken daher zunächst darin, "sich zu verstehen, ohne diese technischen Hilfsmittel zu benutzen." Doch der eigentliche Ausgangspunkt für die vom ihm zelebrierte erzählerische Flugreise durch die Sehnsüchte der Philosophen der Renaissance und der Moderne war die Frage, wie sich eine Utopie in "einer Welt ohne Jenseits", ohne Transzendenz und in einem globalisierten Markt überhaupt noch oder wieder rechtfertigen lassen würde.

Um der Utopie, die bisher immer für einen "Nicht-Ort", also für die Sehnsucht nach dem ganz Anderen stand, zu neuem Glanz zu verhelfen, musste der von der italienischen Justiz zu einer mehrjährigen Haftstrafe Verurteilte und nach wie vor mit Meldeauflagen behaftete Freigänger naturgemäß zunächst etwas weiter ausholen. Der Ansatz seines Denkens ist in gut marxistischer Tradition die Arbeit. Diese ist für ihn eine Grundfigur mit zwei Seiten - so wie Negris Philosophie insgesamt durch und durch dialektisch angelegt ist: Arbeit ist zum einem "Schöpfung von Welt" sowie die Grundkategorie für die Erfahrung der Subjektivität und zum anderen "Gegenstand der Ausbeutung".

Nun ist dem ehemaligen Politikwissenschaftler in Padua nicht entgangen, dass die Arbeit in der "Wissensgesellschaft" nicht mehr so häufig in den Fabriken, sondern gerade von seinem Publikum eher in Agenturen oder realen und virtuellen Netzwerken ausgeübt wird. Mit diesen auch tele-kooperativen Arbeitsformen eröffnen sich laut Negri "neue Möglichkeitsspielräume". Doch letztlich ist die Kooperation für ihn immer schon die Grundbedingung für den Kapitalismus: Der entstehe gerade dadurch, dass "zusammengearbeitet wird". Kooperation sei demnach auch die Ursache dafür, dass Arbeit "überhaupt verwertet" und "ausgebeutet" werden kann. Auch die neue, medial verstärkte Form und Erfahrung der Kooperation bleibt daher etwas "Zerbrechliches". Sie kann "direkt als Mehrwert vom Kapital vereinnahmt werden."

Die Utopie ist tot, es lebe die Utopie

Nach dieser Einführung kam Negri auf die Utopie zurück, die immer auch nach der Überwindung der jetzigen Lage strebe. Sie "muss uns als Möglichkeit der Kooperation erscheinen", schlug der Denker die Rolle rückwärts zum Thema Arbeit und zugleich vorwärts zu seinem jüngsten Werk: dem Empire (siehe auch Antonio Negri: "Tokyo wird nicht bombardiert"). Den schon als "Bibel der Globalisierungskritiker" gefeierten Band hat der Italiener zusammen mit dem Amerikaner Michael Hardt geschrieben. Die darin entwickelte Grundfigur sozialer Protestbewegungen ist die der Multitude, der zweigesichtigen Menge, die sich einmal als reine Anhäufung eigenständiger Individuen, das andere Mal als geschlossene Front präsentiert und zwischen beiden Formen scheinbar spielerisch hin und her wechselt.

Die Grundannahme von Empire sei nun eigentlich gewesen, berichtete Negri, "dass die Utopie hinter uns liege". Die Zeit der Klassenkämpfe um die Freiheit sei endgültig abgeschlossen, dachten die Autoren zunächst. Doch die "gespeicherte Ausdruckskraft vergangener Utopien kann zum Wirkstoff werden für die Multitude", befindet Negri heute. "Die Utopie ist tot, es lebe die Utopie", rief er den sehnsuchtsvoll Lauschenden entgegen, was zu diesem Zeitpunkt aber noch recht unerfüllt und schal klang.

Zu einem besseren Verständnis der neuen Lust an der Utopie half erst Negris historische Suche nach ihren verdrängten Modellen. Allgemein bezögen sich die Philosophen einerseits nur auf die rechten Utopisten á la Platon und Rousseau, die von einer stark metaphysischen Ausprägung und einem transzendentalen Ordnungs- und Seinsdenken charakterisiert würden. Andererseits gäbe es die gängige Referenz auf die linken Utopisten, die stark zukunftsorientiert sind, Herkules als Leitfigur hätten und sich ein kommendes Eden ausdenken würden. Beispiele dafür sei die Dichtung Dantes genauso wie die unterschiedlichen Spielarten des Kommunismus.

Utopie aus dem Bauch

Doch hat Negri im Denken der Modernität auch noch einen ganz anderen "utopischen" Strang neben diesen beherrschenden Diskursen ausgemacht, der sich in "versteckten Gedanken", in karnevalistischen Zügen und in der Verkleidung festmachen ließe. Dabei geht es laut Negri nicht mehr um "Nicht-Orte, sondern um erfüllte Orte":

Sie liegen tief, wie der Bauch, das Lachen oder der Sex.

Dies seien "durch und durch materialistische Utopien, die sich auch häufig eher in der breiten Masse und in der Popkultur als in den Köpfen der Philosophen Bahn schlagen würden. Ihr gemeinsames Kennzeichen sei der "Ausdruck materieller Bedürfnisse, die sofort befriedigt werden müssen". Die Kooperation spielt dabei auch eine wichtige Rolle, denn "in der gemeinsamen Handlung des Menschen" wird gerade in dieser Tradition "die Möglichkeit gesehen, eine neue Gesellschaft zu schaffen."

Negri liest die Utopie so neu im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Verlangens und den Befreiungsversuchen des Verlangens. Spuren davon findet er letztlich doch auch wieder in der Philosophie, und zwar bei all jenen modernen Denkern, die "die Innerweltlichkeit, die Immanenz, zum Ausgangspunkt gemacht haben." Er verweist auf Spinoza, der Gott innerweltlich verortet habe; auf Marx, "der den Widerstand mit der Utopie verknüpft, in den kämpfenden Klassen etwas wie Realität zu konstruieren"; oder auch auf Machiavellis Machtinterpretation im "Fürsten" und die ursprüngliche Fassung von Utopie bei Thomas Morus. Dies seien alles "durch und durch immanente Utopien" gewesen, denen das Element des Scheitern und der Fragwürdigkeit immer mit beigegeben wurde.

Das große Schwärmen

Diese Form der dialektischen Utopie brachte Negri schließlich zusammen mit der Multitude aus Empire und seinem Arbeitsverständnis:

Die Multitude ist die Form, in der die Produktionsprozesse sich heute darbieten. Die Produktion wird bestimmt durch die Produktion von Singularitäten, die etwas produzieren, das mehr ist als sie selbst.

Zur Verdeutlichung des Paradoxes der Masse und der Einzelheit in der Multitude griff Negri auf das bekannte Bild des Schwarms zurück: Diese beispielsweise im Fischreich bekannte Organisationsform "besteht aus lauter Einzelnen, die streng unterschieden sind, aber gleichwohl zusammenwirken und einen Mehrwert schaffen." Die Rede von den Einzelheiten, die sich wiederum als eigene Multitudes verstehen lassen, welche laut Negri gemeinsam eine "Seele" entwickeln und sprachlich verfasst sind, erinnert auch ein wenig an die Monaden eines Leibniz, auch wenn der Italiener diesen Vergleich nicht direkt zieht.

Damit ist Negri eigentlich am Ende angekommen. Er hat die Utopie in der Immanenz und in der neuen Kooperationsform der Multitude neu begründet:

Wir sehen vor unseren Augen reale Utopie, die immanent ist, aber eine teleologische Ausrichtung hat.

Dieses Bild passe auch wunderbar zum aktuellen Netzwerkgedanken, dem letztlich die transmediale huldige. Denn es gehe um die vernetzten "Einzelheiten" (Singularitäten), "die sich mal ausbreiten, mal zurückziehen, aber doch immer in Beziehung bleiben." Man solle die Macht der Multitude auch nicht unterschätzen:

Die Schwärme sind riesig groß, Giganten, die aus sich heraus etwas Neues erfinden.

Man möge da nur an die fliegenden Pferde des Ariost.

Der Widerstand Werden

Doch gänzlich will Negri dann doch nicht schwärmerisch abheben und versucht, zum Schluss wieder Kontakt zur Realität aufzunehmen. Es gelte, "die Zerbrechlichkeit wieder einzuholen", wie er es selbst ausdrückt. Denn auch die dem Publikum vor Augen gestellten Bilder, diese Formen der symbolischen Transzendenz, will der Materialist eigentlich nicht zulassen. Beziehungsweise höchstens nur dann, "wenn wir sie ständig mit einbauen in die Konstruktion unseres diesseitigen Lebens." Damit ist der Alt-68er plötzlich ganz aktuell bei Arundhati Roy und ihrem Aufruf zur Beteiligung am Widerstand im Irak ( Vom Protest zum Widerstand? ).

"Der Widerstand müssen wir selbst werden", sagt er, "sonst wird er bedeutungslos". Der Antagonismus, der Widerspruch und der Streit müssten immer wesentlicher Bestandteil auch einer immanenten Utopie sein, sonst würde deren Kraft aufgesogen vom Kapital, von der staatlichen Gewalt und vom Krieg. Negri spricht von der "Notwendigkeit, den Antagonismus in uns aufzunehmen und etwas wie ein Gottesstaat zu werden." Damit meine er natürlich den Staat der Menschen, der allen etwas mehr Anstand und Wohlstand und Glück bringen soll.

Eine schöne Geschichte, reich geschmückt mit den Versatzstücken der modernen Philosophie und zudem vor allem eins: hoffnungsvoll. Und damit sind wir auch wieder bei Bertolucci und seinem Recht zum Träumen, denn auch er wirft die Frage auf, ob die Zeit nicht reif sei für ein neues 1968. Im Publikum bei der transmediale wollten sich dagegen nicht alle einfach dem neuen italienischen Optimismus hingeben. Etwas böse kritisierte ein Zuhörer, dass die Rede von den neuen Gemeinschaften mit ihren geistigen, körperlichen und seelischen Entitäten auch ganz ähnlich vom Boss eines globalen Konzerns zur Stärkung der Corporate Identity gehalten werden könnte. Negri verwahrte sich jedoch dagegen, einen "hergeholten Optimismus" zu predigen. Er spreche von einem Optimismus des Lebens, der Arbeit und des Bauches.

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