egoismus über alles

Wertewandel, Werteverfall... die Debatte darum reißt nicht ab. Doch die Tatsachen werden wie immer woanders geschaffen, ohne daß diese Debatte etwas ändern würde. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Werte sind in den 90ern anachronistisch.

Werte machen ein eigentlich menschliches Zusammenleben aus, können aber im Unterschied zum Egoismus und anderen Instinkten aus sich selbst heraus nicht existieren, sondern müssen von einer Gemeinschaft oder Gesellschaft erst angenommen werden. Sieht man Egoismus nicht nur als eine natürliche Tatsache (was er zweifelsohne ist), sondern darüberhinaus als eine wirtschaftlich gesunde Einstellung, die Triebfeder des Marktes, erscheinen alle Werte als bloße Beigaben, auf die man verzichten kann, wenn es dem persönlichen "Nutzen" frommt. Wir glauben, daß Egoismus, umbenannt in Nutzen und zu einem Wert des Homo Oeconomicus aufgebaut, und ein forcierter Appell an die Instinkte jedes andere Wertesystem erodiert.

Werte, die nicht systemkonformes, unökonomisches Verhalten produzieren, müssen mit einem Egoismus kollidieren, der wirtschaftlichen Erfolg verspricht. Ausgerechnet die Revolte der Sechziger hat dem Ganzen den letzten Kick gegeben. Galten vorher die alten Werte zumindest noch als offizielle Spielregeln, die man zum Schein befolgen mußte, waren sie nach den Sechzigern hinweggefegt. Natürlich war dieser "Wertesturm" längst überfällig, war die Hohlheit himmelschreiend. Nur war es eine idealistische Minderheit, die neue Werte etablieren oder ernst genommene alte Werte entmotten wollte. Die breite Öffentlichkeit beteiligte sich daran nicht. Vielmehr scheint es, als wären viele Leute froh gewesen, die Maske bürgerlicher Scheinmoral fallen zu lassen, um endlich die Sau rauslassen zu können. Egoismus ließ sich nun gut als Selbstverwirklichung und Befreiung von bürgerlichen Zwängen verkaufen und produzierte zusammen mit einem wilden Hedonismus, den man den Sechzigern ebenfalls schlau abgeguckt hatte, die yuppisierte Gesellschaft der Achtziger.

Die Perfektionierung der visuellen Medien hat in Verbindung mit dem Eindringen des Prinzips der Nutzenmaximierung in alle Lebensbereiche die Erosion des Wertesystems verstärkt. Um Konsumenten für ein Produkt zu gewinnen, ist es riskant, für dieses nur mit rationalen Argumenten zu werben. Man muß massiv an Instinkte appellieren, da der Rezeptionsmechanismus bei Bildern ein anderer ist. So werden Punkte gewonnen, bevor eine rationale Auseinandersetzung überhaupt begonnen hat, bei der Werte eine Rolle spielen können. Durch die Geschwindigkeit und die Häufigkeit des Bilderbombardements, aber auch die psychologische Raffinesse der Bilder selbst hat dieser Vorgang eine neue Qualität gewonnen. Wertentscheidung sind zu einem guten Teil rationale Entscheidungen, die Zeit verlangen, die nicht mehr zur Verfügung steht. Die Entscheidung ist schon vorher aus dem Bauch heraus getroffen worden. Schöne, coole, junge, starke, intelligente, angesagte Menschen, die sich etwas leisten können, die Kult betreiben, die Welt sehen, Gesten in den Raum schleudern, kitzeln uns, so sehr wir uns streuben: Wir wollen irgendwie dazugehören. Alles andere wird zweitrangig. Wir werden süchtig.

Es ist grotesk, den Verfall eines Wertesystems zu beklagen, aber gleichzeitig den Egoismus quasi als Wert des Gemeinwesens - euphemistisch Leistungsbereitschaft - festzuschreiben, weil nur er in der Lage sei, Wohlstand - natürlich immer nur materiellen - zu produzieren, und die Dosis des Suchtstoffs, der die Werte betäubt, ständig zu erhöhen.