welt in der revolte
Niels Boeing, Hamburg, November 2002

Intro
St. Pauli - Seattle - L.A.
Das Logo-Spiel und seine Auflösung
Ein Zeitalter explodiert
Der Schach-Ansatz
Erkenntnisse
Welche Hebel in Bewegung setzen?


Intro

„Riots and disturbances of the peace are against the interest of all our people and therefore cannot be permitted“, sagt der Präsident.
„The jury found that they were all not guilty“, sagt der Nachrichtensprecher.
„Not guilty, not guilty...?“ hallt es ins Off, ein trockenes Kontrabassthema setzt ein, ein harter nervöser Hiphop-Beat folgt, eine wütende Stimme:
„We had to tear this motherfucker up!"

St. Pauli - Seattle - L.A.

Riots? Peace? Interest? Während auf meinem Plattenteller der Soundtrack des Aufruhrs läuft, sammelt sich einen Kilometer weiter einmal mehr die neue "Bambule-Opposition" von St. Pauli. Umringt von Wasserwerfern und Hundertschaften. Vordergründig geht es seit drei Wochen um die Räumung einer Wagenburg. Aber das ist Quatsch. Die hartnäckigen und doch etwas planlosen Gestalten, die sich da am Pferdemarkt versammeln, ahnen es vielleicht schon: Sie sind eigentlich Teil des globalen Aufruhrs gegen die forcierte Disziplinierung des öffentlichen Raumes zum Schutz kapitalistischer Investitionen. Es brodelt. Jetzt sogar in Hamburg.

Als ich Ice Cubes Stückhöre, wird mir auch klar: Das erste Streichholz ist 1992 in L.A. ins Öl der Wut gefallen. Als die Polizisten, die den Schwarzen Rodney King gequält haben, freigesprochen werden, kommt es zu tagelangen Straßenschlachten und Plünderungen. White Trash und schwarze Gangs stürmen gleichermaßen die Läden. Politische Beobachter trauen ihren Augen nicht. Der vermeintliche „Rassenkrawall“ wird zum ersten Zornesausbruch derjenigen, an denen nicht nur der American Dream der Reagan-Jahre vorübergegangen ist. Hier „sprechen“ die ersten westlichen Verlierer der „neuen Weltordnung“.

L.A., nicht die "Battle of Seattle" im November 1999, ist der Anfang der Antiglobalisierungsproteste. Entfacht von Menschen, die erst materiell aufgegeilt und dann gedemütigt wurden.

Während der lange Boom der Clinton-Jahre die Widersprüche des Neoliberalismus im Westen erst einmal kaschieren kann, erwischt andere massiv die Globalisierungsgrippe: Mexiko 1994, Thailand, Indonesien und das restliche Südostasien 1997, Russland 1998, Argentinien steckt gerade darin. Nicht alle Staaten habe dieselben Abwehrkräfte, wie ein Blick auf die Weltkarte der Globalisierung zeigt:

Die Rosskur lautet immer gleich: Deregulierung des Finanzsektors, Flexiblisierung des Arbeitsmarktes, Ausgabendisziplin, steuerliche Zurückhaltung. Begleitet von dem buddhistisch anmutenden Mantra: „Let it flow“ - the cash. Denn nach dem Naturgesetz der Selbstorganisation wird dann weltweit die perfekte ökonomische Ordnung wie von unsichtbarer Hand entstehen. Die weder den mittellosen Angeleno noch den arbeitslosen Webdesigner aus der Schanze braucht. Der Kreis hat sich geschlossen.

Das Logo-Spiel und seine Auflösung

Was für eine Ordnung ist das? Ihre groben Umrisse kann jeder bei sich zuhause entdecken. Geht in eurer Wohnung auf und ab und notiert mal, welche internationalen Markenprodukte ihr findet. Sony, Levis, Hennes & Mauritz, Siemens, Motorola, Nokia, Philips, Boss, Benetton, Ikea, Adidas, Nike, Microsoft, Intel...
Jesus Christ, was sich bei mir alles tummelt! Auch ich ein Opfer des allgemeinen Markenwahns?

Aber darum soll es hier nicht gehen. Die interessante Frage ist, in welchem Zusammenhang diese Produkte gefertigt und konsumiert werden.

Naomi Klein hat das in ihrem Bestseller „No Logo“ am Beispiel Nike dargelegt. Während die Nike-Schuhe für lächerlich wenig Geld in Südostasien produziert wurden, schaffte es der Konzern mit geschicktem Marketing über das Basketball-Idol Michael Jordan, dass vor allem schwarze Jugendliche aus oft wenig begüterten oder gar arbeitslosen Familien ein Heidengeld für die Treter ausgaben. „Die grausamste Ironie des Nike-Rezepts 'Marken, nicht Produkte' besteht darin, dass der Personenkreis, der am meisten dazu beiträgt, dass der Swoosh [das Nike-Symbol] hip ist, genau derselbe ist, der durch die aufgeblähten Preise und die nicht-existente Produktionsbasis des Konzerns am schlimmsten geschädigt wird.“ (No Logo S. 377; Zusammenfassung des Buches)

Der entscheidende Punkt hieran ist nicht, dass die Nike-Schuhe in Kinderarbeit gefertigt wurden, was ohne Zweifel ein Skandal ist. Nein, der Punkt ist, dass in der zunehmend global verflochtenen Wirtschaft der Zusammenhang zwischen Produktion und Konsum völlig verloren geht. Letztlich könnte auch auf dem Mond produziert werden, solange die arbeitslosen Massen zwar keine Selbstachtung mehr, aber genügend Kaufkraft hätten.

Dieses räumliche Auseinanderklaffen von Produktion und Konsum in einem bisher nicht gekannten Ausmaß hat aber dramatische Folgen. Unter dem Deckmantel ökonomischer Arbeitsteilung im Weltmaßstab breitet sich von den Metropolen ein Wirtschaftssystem aus, dass tragfähige lokale Lebensstrukturen aushöhlt, Menschen zu paranoiden Konsumenten degradiert, die sich in lebende Bomben verwandeln können, und natürliche Ressourcen zerstört, weil ohne Rücksicht auf die lokale Geografie gewirtschaftet wird.

Das ist das Problem der gegenwärtigen Globalisierung.

Ein explodierendes Zeitalter

Die durch Satelliten-TV, Mobilfunk und Internet verzugslose Kommunikation zwischen zwei beliebigen Punkten auf der Erde hat außerdem zwei weitere Prozesse in Gang gesetzt:

  • eine neue medial konstruierte Weltöffentlichkeit, die von einer Flugzeugentführung in Korea, der neuen Tournee von Michael Jackson und einem Flüchtlingsdrama bei den Weihnachtsinseln gleichermaßen Notiz nimmt (wenn auch nur aus Sensationsgier).
  • die Auflösung und Vermischung von bisherigen Wertesystemen, die neue, nicht mehr an einen Ort gebundene Wertesysteme hervorbringt: Was hip ist in Bombay, wird auch in Berlin aufgegriffen, was in New York erlaubt ist, wollen die Jungen auch in Shanghai erleben.

Das Zusammentreffen dieser drei Entwicklungen: Die völlige Ungebundenheit von Kapital und Produktion, die neue Weltöffentlichkeit und die Entstehung ganz neuer ortloser Wertesysteme und Lebensstile markiert den entscheidenden Bruch unserer Zeit mit der gesamten Geschichte vorher. Sie ist nicht nur eine Neuauflage der "kleinen Globalisierung" in der Hochzeit des Kolonialismus vor dem Ersten Weltkrieg (siehe "Globalization of the Economy" von Jeffrey Frankel). Alles ist intensiver, schneller, überdrehter, gemischter, lustvoller. Wir leben in einem materiell und spirituell explodierenden Zeitalter.

Wer aber ist dafür verantwortlich? Läuft es von selbst ab oder wird es gezielt vorangetrieben? Und: Muss die Globalisierung gestoppt – oder kann sie gestaltet werden?

Der Schach-Ansatz

Die bisherigen Antworten auf diese Fragen sind unbefriedigend. Betrachten wir die Globalisierung deshalb einmal anders: als Spiel, in dem die Akteure verschiedene Spielzüge vornehmen können, aber - wie beim Schach - leider nicht alle dieselben.

Spieler Mögliche Spielzüge
1 Individuen in den globalen Metropolen
  • Als Tourist in der globalen Provinz Devisen ausgeben
  • Als Tourist in der globalen Provinz Popkultur verbreiten
  • Als Tourist in der globalen Provinz die lokale Bevölkerung ausbeuten (Sex-Tourismus), Gewalt gegen 2 ausüben
  • Papiere an den internationalen Finanzmärkten als Kleinanleger handeln
  • In der globalen Metropole Importwaren konsumieren
2 Individuen in der globalen Provinz
  • Reisenden aus den globalen Metropolen lokale Kultur, Werte, Bilder, Produkte mitgeben
  • Reisende aus den globalen Metropolen abzocken
  • Gewalt gegen 1, 3 oder 7 ausüben
3 Internationale Konzerne
  • Investieren und Produktion eröffnen
  • Produktion abziehen
  • Aktien etc. herausgeben
4 NGOs
  • Kampagnen starten und über Medien Druck auf 3, 5, 6, 7, 8, 9 ausüben
  • gemeinnützige Projekte starten, die der Markt nicht zustande bringen würde
5 G1 = USA
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • Subventionen für heimische Produktion
  • Hilfszahlungen an 8 leisten/einstellen
  • Schulden erlassen
  • politische Sanktionen Verhängen
  • militärisch rund um den Globus intervenieren
  • Organisationen unter 9 blockieren
6 restlichen G8-Staaten ohne USA
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • Subventionen für heimische Produktion
  • Hilfszahlungen an 8 leisten/einstellen
  • Schulden erlassen
  • politische Sanktionen Verhängen
7 Sonstige Industrie- und Schwellenländer
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • Subventionen für heimische Produktion
  • Hilfszahlungen an 8 leisten/einstellen
  • eigene Währung abwerten
  • untereinander Krieg führen
8 "Dritte" und "Vierte" Weltstaaten
  • Eigene Märkte öffnen oder schließen
  • eigene Währung abwerten
  • untereinander Krieg führen
9 Internationale Organisationen: WTO, IWF, Weltbank, mit Einschränkungen UNO
  • Kredite gewähren
  • Sanktionen beschließen

Erkenntnisse

Die G1 mit ihrem Anführer Bush sind sicher eine ungeheure Kraft. Aber Antonio Negri und Michael Hardt haben Recht, wenn sie betonen, dass die USA nicht das "Empire" sind (siehe Interview mit Antonio Negri). Wenn wir die Spielzüge studieren, erkennen wir: Die Globalisierung ist keine Einbahnstraße in Richtung einer unaufhaltsamen Amerikanisierung, wie europäische Pseudo-Intellektuelle immer lamentieren. Überall sind gegenläufige, ja sogar in sich widersprüchliche Trends sichtbar.

Hiphop zum Beispiel: Auf den Straßen der Bronx und in Queens aus der Not geboren, wird er wird überall verstanden und weiterentwickelt, von Rarotonga bis Eimsbüttel, weil er wie keine andere Musikrichtung den Frust der weltweiten Underdogs transportiert. Weil er als einzig legitimer Nachfolger von Punk unversöhnlich und hart den Wahnsinn moderner Metropolen artikuliert. Gleichzeitig ist er längst Big Business und globalisierte Ware geworden, die jenen Glamour propagiert, mit dem der globale Kapitalismus jeden in Versuchung führt.

Islamismus zum Beispiel: Von den USA finanzierte Bewegungen bomben zwar gegen ihre einstigen Mäzene. Dabei bedienen sie sich aber internationaler Finanznetze und modernster Kommunikationstechnik. Sie operieren von Djakarta bis Brooklyn. Oliver Fahrni hat recht, wenn er darauf hinweist, dass Bin Laden und seine Al Qaida eigentlich das Globalisierungsspiel perfekt beherrschen (siehe "Die Zerschlagung der Welt" von Oliver Fahrni).

Der Kampf gegen Aids und Frauenbeschneidung in Afrika zum Beispiel: Er ist nur möglich, weil er sich gegen überkommene patriarchale Wertordnungen richtet. NGOs und internationale Medien unterstützen Organisationen in Afrika und können Regierungen dort unter Druck setzen. Und eine Ausgeburt des US-Kapitalismus wie Bill Gates gehört zu den größten Finanziers im Kampf gegen Aids überhaupt.

Die kulturelle Bereicherung zum Beispiel: Coca Cola und McDonalds zerstören quasi als kulinarische Waffen des US-Imperialismus fremde Kulturen? Dann lohnt sich ein Streifzug durch die westlichen Metropolen, in denen aufgeklärte Menschen in Scharen indischer, arabischer oder thailändischer Küche verfallen.

Welche Hebel in Bewegung setzen?

Gerade die letzten beiden Beispiele zeigen: Wer die Globalisierung kompromisslos ablehnt, ist im Grunde reaktionär. Die Alternative "Globalisierung oder nicht" ist nicht nur unrealistisch, sondern auch gefährlich. Wenn die Welt in politisch und kulturell abgeschottetete Räume zurückfällt, die ganz "bei sich" sind, hat der autoritäre Kapitalismus, der sich nach 9/11 überall anbahnt, noch leichteres Spiel mit der Missachtung der Bürgerrechte. Restriktive Traditionsgesellschaften können die Pflänzchen der Emanzipation plattmachen.

Tatsächlich ist die Globalisierung ein Wettlauf zwischen zwei konkurrierenden Prinzipien, dessen Ergebnis noch nicht ausgemacht ist: der freien Zirkulation des Kapitals und der freien Mobilität von Menschen mit ihren Träumen und Ideen. Ziel kann nur ein Sieg der Globalisierung der zweiten Art sein.

In politische Forderungen übersetzt heißt das:

  1. Die Zirkulation des Kapitals muss in ihrer Geschwindigkeit an die Reaktionsmöglichkeiten lebender Menschen angepasst werden: Charakteristische Zeitspannen für einschneidende Transaktionen müssen Monate und nicht Sekunden sein. Als favorisiertes Instrument hierfür gilt die Tobin Tax, der kleinste gemeinsame Nenner aller Globalisierungskritiker. Das reicht aber nicht.
  2. Wichtiger noch ist eine radikale Änderung des internationalen Abkommens zu geistigem Eigentum, also zu Patenten und Urherberrechten an Wissen, Entdeckungen und Schöpfungen (TRIPS). Anstatt das System so zu reformieren, dass nicht-westliche lokale Kulturen zum Beispiel automatisch eine Art natürliches Patent auf ihr traditionelles botanisches Wissen erhalten, sollte man das Patentsystem komplett anschaffen. Alle Ideen allen zugänglich machen, ohne Rücksicht auf Investitionen. Die Globalisierungskritiker sollten sich noch vor der Tobin Tax den Kampf für eine globale Public Domain des technischen Wissens auf ihre Fahnen schreiben.
  3. die weltweite kritische Gegenöffentlichkeit weiter ausbauen. Über das, was die NGOs in den letzten 20 Jahren erreicht haben, hinaus muss der Kampf gegen jede Form von Zensur organisiert werden. Ob das die chinesische Netzblockade ist oder das Verbot des Films 11'9"01 in den USA wegen Antiamerikanismus: globalisierungskritische Gruppen sollten konzertierte Aktionen zur Subversion dessen einleiten.
  4. Anstatt den Freihandelsadvokaten das Wort im Munde rumzudrehen und Freihandel aus der Perspektive der Dritten Welt gegen beispielsweise EU-Schutzzölle zu fordern, sollten sich die Kritiker für den Aufbau regionaler Wirtschaftsräume stark machen. Schutzzölle nicht nur in Kauf nehmen, sondern fordern - und gleichzeitig einen Freihhandel der Ideen und des Wissens einleiten. Das ermöglicht eine geografische Einheit von Produktion und Konsum, die für Umwelt und Gesellschaften gesünder ist: ökonomische Selbstbestimmtheit wird so für weite Teile der Welt überhaupt erst möglich.

Was könnte das konkret bedeuten, wird sich mancher bei den letzten Absätzen gefragt haben. Nun, hier ist ein Versuch - frei aus der Hüfte geschossen:

  • Spenden für Hacker sammeln, die chinesische Provider attackieren;
  • in Berlin nur Brandenburger Erdbeeren essen;
  • eigene Entdeckungen und Gedanken unter der Gnu Public License ins Netz stellen;
  • viel verreisen und kräftig Geld lassen, am besten Jugendlichen dort Internetkurse bezahlen;
  • Aktien Aktien sein lassen;

...wird fortgesetzt. Vorschläge bitte an webmaster@km21.org mit Betreff "Globalisierungsaktionen".


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