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Juli 2003
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From lagohh Wed Jul 31 20:56:04 2002
Subject: Re: Re: bonusmeilen - wann beginnt korruption?

Möchte doch nochmal auf den Absatz der SZ verweisen:

"Wer Kleinkram zum Skandal aufbläst, macht etwas Gefährliches: Er lenkt davon ab, dass es echte Skandale gibt (deren Behandlung aber möglicherweise nicht opportun ist). Und er verniedlicht den echten Skandal, weil man den nicht mehr ernst nimmt. "

Dubiose Rüstungsgeschäfte, Lobbyistengefälligkeiten für/gegen Gesetze, Niederschlagen von unliebsamen Verfahren gegen Regierungsfeunde/amigos, Baugenehmigungen gegen Handgeld, geförderte Industrieansiedlungen etc. - das sind Thematiken wo mehr als ein paar Meilen unter dem Tisch gehandelt werden. Die grosse Korruption ist in Deutschland ebenso populär, wie das Meilen Sammeln - im Immobilenbereich (und da weiss ichs) mischen Grosskonzerne, Lokalpolitiker, Investoren munter mit - bei jedem Einkaufszentrum, bei jeder Gewerbegebietserschliessung.

Schon paradox, dass nun eine Reihe von Politikern über diese Meilen stolpert (übrigens kann man sein Meilenkonto auch überziehen und muss nicht "nochmal nach München" fliegen) Und was ist eigentlich mit denen in der Senator Lounge umsonst konsumierten Getränken und Speisen? Den "Lufthansa Status" haben die Vielflieger auch beruflich in Staatsdiensten erworben ... dann bekäme der Her Thierse eine Reihe von Belegen: 1 Holsten, 0,3l, Flughafen Köln/Bonn


From fcbui Wed Jul 31 19:59:42 2002
Subject: Re: bonusmeilen - wann beginnt korruption?

Zur Frage, wer oder was dahinter steckt eine Glosse aus der Börsen-Zeitung von Morgen:

Wahlen & More Börsen-Zeitung, 1.8.2002 Eines steht seit gestern fest: Die Bundestagswahl wird in Frankfurt entschieden. Genauer gesagt in den Büros der Lufthansa. Denn dort lagern hochbrisante Daten, die manch einen Politiker Kopf und Kragen, pardon: Mandat, kosten könnten. Nachdem Gregor Gysi zu Fall gebracht wurde, haben die bösen Lufthanseaten wieder vor allem grüne Politiker im Visier. Deren Miles & More-Daten wurden angeblich an die Medien weitergeleitet. Warum, ist klar. Sind doch die Grünen gegen den Flughafenausbau in Rhein-Main. Jürgen Trittin ist der Lufthansa zusätzlich ein Dorn im Auge, weil der immer wieder laut über die Besteuerung von Kerosin nachdenkt. Nun geht die Angst um, wer das nächste Opfer der fliegenden Wahlkampfhelfer sein könnte. Vielleicht die FDP von Jürgen Möllemann, der den Fallschirm dem Flugzeug vorzieht? Oder die SPD mit Ministerpräsident Kurt Beck, der den Flughafen Hahn und damit Ryanair fördert? Vor lauter Angst vor dem nächsten Angriff des Kranichs sollte die Politik nicht vergessen, vor der eigenen Tür zu kehren. Denn der Grund, warum Politiker überhaupt in Verdacht geraten, liegt nicht in der Geschwätzigkeit einiger Lufthanseaten, sondern im schwindenden Vertrauen der Bürger in die Moral der Politiker. lis


From niels.boeing Wed Jul 31 19:45:32 2002
Subject: bonusmeilen - wann beginnt korruption?

jens schrieb:

> Weiss eigentlich jemand, woher die ganzen Vorwürfe plötzlich kommen? Trittin, Vollmer, Nooke?

gute frage, wann kommt eigentlich der erste CDU-politiker ans licht? schon interessant, dass es bis jetzt nur grüne und PDS trifft.

doch das ist nicht das entscheidende, wenn ich andre zustimme.

> Mich kotzt diese Bonusmeilen-Korinthenkackerei in der Presse an. Ja und? So lange politische Ämter nicht anständig bezahlt werden darf sich niemand beschweren, dass hier und da etwas privat genutzt wird. Was ist denn daran so schlimm? Werden Politiker demnächst verhaftet, weil sie ihre staatlich erworbene Popularität privat zu Werbezwecken für ihre Memoiren missbrauchen? Privatnutzung der Atemluft in Amtsgebäuden? Wo leben wir eigentlich? Huntzinger - na gut, da stochert man schon mal drin herum. Das stinkt. Aber Bonusmeilen? Anstatt einen solchen Zirkus zu machen sollte man schnell offiziell erlauben solche Rabatte privat zu nutzen und Punkt.

das scheint mir auch vernünftiger. der jetzige zustand ist fernab aller lebensrealität. aber in der tat ist es schwierig zu entscheiden: was ist KORRUPTION?

zumindest ich darf wohl nie politiker werden, denn ich habe als journalist 4 testgeräte behalten dürfen: einen handspring visor, ein visorphone, ein motorola-handy und ein CD-brenner-laufwerk von TDK.

das motorola war das erste teil. danach kam mir das schon komisch vor. als ich später visorphone oder brenner bezahlen wollte, wussten die PR-leute mit diesem wunsch nichts recht anzufangen. es gab keinen preis. nach drei mal hin und her telefonieren hab ichs dann jeweils behalten.

und nun die frage: bin ich korrupt? wahrscheinlich. alles fängt klein an. oder nicht? wann fängt es an?

fragt niels


From ju Wed Jul 31 19:10:15 2002
Subject: AW: Bonusmeilen Bockmist

Weiss eigentlich jemand, woher die ganzen Vorwürfe plötzlich kommen? Trittin, Vollmer, Nooke? Sitzt da jemand an der Miles & More-Hotline, der auf Anfrage die Kontostände seiner "Lieblings"-Politiker rausgibt? Oder wie läuft das?

j---


From t_karcher Wed Jul 31 19:04:07 2002
Subject: Re: Bonusmeilen Bockmist

Hallo Andre, und hallo auch an den Rest des "illustren Kreises",

ich rege mich zwar auch auf über die Geschichte, aber aus völlig anderen Gründen: Warum ist der Staat nicht in der Lage, vernünftige Verträge mit der Lufthansa auszuhandeln, nach denen die Bonusmeilen für Dienstflüge direkt verrechnet werden, statt sie irgendwelchen Abgeordneten persönlich zur Verfügung zu stellen?! Es kann doch nicht so schwer sein, da eine Sonderregelung - vergleichbar mit den Sonderkonditionen bei Firmenverträgen etc. - zu finden!

> Anstatt einen solchen Zirkus zu machen sollte man schnell offiziell erlauben solche Rabatte privat zu nutzen und Punkt.

Na danke. Und wenn dann einem Abgeordneten noch ein paar Bonusmeilen für die Finanzierung des privaten Urlaubsflugs fehlen, beraumt der schnell mal eine dienstliche Besprechung in München an. Das kann's ja wohl nicht sein.

> Mir scheint, dass es zur Zeit ein extrem verzerrtes Bedürfnis (wessen eigentlich?) nach Skandalen gibt.

In diesem Punkt stimme ich dir zu: Das Missstände vorhanden sind, halte ich für eine ausgesprochen banale Erkenntnis. Sie aufzudecken und zu beseitigen ist notwendig, aber sie tagelang in der Presse breitzutreten und Einzelschicksale nach allen Regeln der journalistischen Kunst "auszuweiden", das geht mir dann auch entschieden zu weit. Von wem sich ein Herr Özdemir Geld geliehen hat, und wieviel, das mag ein Fall für einen entsprechenden Untersuchungsausschuss sein, aber kein Fall für die Titelseite einer Tageszeitung.

Auch nur meine Meinung. Thomas


From Thomas Wed Jul 31 18:56:46 2002
Subject: AW: Bonusmeilen Bockmist

Hallo,

hier eine kurze Antwort auf die Bonusmeilen.

Gerade ein kurzer Schock, weil nun auch Gregor Gysi sich aus den Ämtern wegen Bonusmeilen verabschiedet hat.

Folgenden Artikel in der SZ von heute zum Thema Bonusmeilen und Verschiebung der Dimensionen finde ich ganz OK.

"30.07.2002 17:55 Kommentar

Der Skandal - auf den Hund gekommen Von Heribert Prantl Ein neuer Skandal belegt die sattsam bekannte Gier deutscher Politiker: Ein Bundestagsabgeordneter wurde mehrmals dabei beobachtet, wie er sich in einem teuren Berliner Lokal die reichlichen Reste eines üppigen Dienstessens für seinen Hund, also für private Nutzung, hat einpacken lassen.

Recherchen haben ergeben, dass der Parlamentarier diesen geldwerten Vorteil nicht versteuert und auch nicht der Bundestagsverwaltung gemeldet hat. Der Bund der Steuerzahler klagt deshalb über einen "Mundraub" an staatlichem Eigentum; gerade im Kleinen müsse sich die Penibilität des Systems zeigen.

Der Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim spricht davon, dass die Politik buchstäblich auf den Hund gekommen sei; bei dem bekannt gewordenen Fall handle es sich um eine neue Steigerung längst bekannten Fehlverhaltens. Es sei ja schon bisher so, dass Politiker nicht für die, sondern von der Politik leben, und nun gelte das auch noch für ihre Haustiere.

Wenn die Banalisierung des politischen Skandals weiter Fortschritte macht, wird man demnächst Meldungen und Kommentare dieser Art tatsächlich lesen können. Wird nämlich der miles- and-more-Massstab zum Generalkriterium gemacht, dann kann die gehobene deutsche Arbeitnehmerschaft wohl in toto zurücktreten - im Übrigen auch der gesamte Bundestag, weil dieser dereinst zugestimmt hat, dass die Freimeilen nur mit einer kleinen Pauschale versteuert werden.

Wer Kleinkram zum Skandal aufbläst, macht etwas Gefährliches: Er lenkt davon ab, dass es echte Skandale gibt (deren Behandlung aber möglicherweise nicht opportun ist). Und er verniedlicht den echten Skandal, weil man den nicht mehr ernst nimmt. "

Dennoch finde ich, dass Politiker alles tun sollten, um ihr Tun und Lassen für die Bürger transparent zu machen. Politiker dürfen meines Erachtens gerne so lange sie in Amt und Würden Memoiren schreiben und dafür Geld kriegen, wie sie wollen. Sie dürfen auch Bonusmeilen sammeln und privat benutzen. Nur sollen das die Wähler wissen und dann kann man entscheiden, ob man das OK findet oder nicht. Dann kann man das auch eventuell in irgendwelchen Verordnungen festhalten.

Transparenz ist das Zauberwort. Politiker müssen sich vor den Wählern verantworten, Wirtschaftsbosse vor ihren Geldgebern, z.B. Aktionären. Die dann die Macht haben müssen, zu sanktionieren. Aber so lange hier und da Mauscheleien kleinen (Bonusmeilen) oder grossen (degoutante Abfindungen) Ausmasses bekannt werden, steigen das Misstrauen gegenüber allen Mächtigen und die Politikverdrossenheit bzw. der Sozialneid.

Thomas Hasel

P.S.: Glaubt noch jemand, dass Edmund Stoiber am 22.9. NICHT Kanzler wird? Ich habe das Gefühl SPD, Grüne und vielleicht auch die PDS'ler haben keinen rechten Bock mehr. Die Sonne im Süden ruft. Die Linke ist eh lustbetonter.


From fcbui Wed Jul 31 18:35:22 2002
Subject: Re: Bonusmeilen Bockmist

Tja und den lieben gregor hat's jetzt auch erwischt:

Mittwoch 31. Juli 2002, 18:17 Uhr Gysi wegen Bonus-Meilen zurückgetreten Der PDS-Politiker Gregor Gysi ist von seinem Amt als Berliner Wirtschaftssenator zurückgetreten. Dies teilte eine PDS-Sprecherin in Berlin mit. Gysi zog damit die Konsequenzen aus der privaten Nutzung dienstlicher Bonus-Meilen

Es gibt sicherlich schlimmere Verstösse, von denen wir nichts wissen, aber Holger hat schon recht: die haben sich darauf geeinigt. ausserdem fängt die korruption schon im kleinen an. gott sei dank bin ich kein politiker

gruss

franz


From holger Wed Jul 31 18:25:47 2002
Subject: Re: Bonusmeilen Bockmist

andre,

auch wenn die ganze hysterie natürlich schwachsinnig ist, gibt es eine ältestenrat-entscheidung, der alle parteien zugestimmt haben. in dieser wird ausdrücklich gefordert, berufliche meilen nicht privat zu nutzen. das kann man gackerig finden oder nicht. in jedem fall hat cem aber gegen diese vereinbarung gehandelt, was dann schon eine andere dimension bekommt.

> Bonusmeilen? Anstatt einen solchen Zirkus zu machen sollte man schnell offiziell erlauben solche Rabatte privat zu nutzen und Punkt. Hier wird der Eindruck einer Dimension erweckt als würde der Finanzminister die Zinsen von Staatsgeldern privat abzweigen. Bonusmeilen! (Prust) "Sünderlisten" der Lufthansa! (Gacker!)


From andre.schnoor Wed Jul 31 17:47:37 2002
Subject: Bonusmeilen Bockmist

Sorry, dass sich meine Wut ausgerechnet in diesem illustren Kreis entlädt, aber ich kann es nicht mehr verhindern. Mich interessiert eure Meinung.

Mich kotzt diese Bonusmeilen-Korinthenkackerei in der Presse an. Ja und? So lange politische Ämter nicht anständig bezahlt werden darf sich niemand beschweren, dass hier und da etwas privat genutzt wird. Was ist denn daran so schlimm? Werden Politiker demnächst verhaftet, weil sie ihre staatlich erworbene Popularität privat zu Werbezwecken für ihre Memoiren missbrauchen? Privatnutzung der Atemluft in Amtsgebäuden? Wo leben wir eigentlich? Huntzinger - na gut, da stochert man schon mal drin herum. Das stinkt. Aber Bonusmeilen? Anstatt einen solchen Zirkus zu machen sollte man schnell offiziell erlauben solche Rabatte privat zu nutzen und Punkt. Hier wird der Eindruck einer Dimension erweckt als würde der Finanzminister die Zinsen von Staatsgeldern privat abzweigen. Bonusmeilen! (Prust) "Sünderlisten" der Lufthansa! (Gacker!)

Mir scheint, dass es zur Zeit ein extrem verzerrtes Bedürfnis (wessen eigentlich?) nach Skandalen gibt. Wenn Top-Leute wie Hartz sich bisher stur geweigert haben ein politisches Amt zu bekleiden, dann liegt das daran wie dieses Land mit ihnen umgeht. Bin gespannt, wann auf den Tisch kommt mit welchen Mitteln Hartz zu einer Umbesinnung "gezwungen" wurde :)

Meine Meinung. Andre


From Heusinger Tue Jul 30 19:16:06 2002
Subject: Kritik an Stiglitz

Vielleicht habt Ihr den offenen Brief an Stiglitz schon gelesen. Ich habe erst heute von dem Veriss des Stiglitz-Buches gehört und wollte ihn Euch nicht vorenthalten. Meine Meinung: Alles ist relativ. Und die Welt ist nun mal verdammt komplex, kompliziert und selbst auf 200 Seiten nicht lückenlos zu erklären. Die Eitelkeit des omnipräsenten IWF-Kritikers amüsiert mich.

Grüsse, Robert

An Open Letter

By Kenneth Rogoff, Economic Counsellor and Director of Research, International Monetary Fund

To Joseph Stiglitz, Author of Globalization and Its Discontents (New York: W.W. Norton & Company, June2002)

Washington D.C., July 2, 2002 At the outset, I would like to stress that it has been a pleasure working closely with my World Bank colleagues?particularly my counterpart, Chief Economist Nick Stern?during my first year at the IMF. We regularly cross 19th Street to exchange ideas on research, policy, and life. The relations between our two institutions are excellent?this is not at issue. Of course, to that effect, I think it is also important, before I begin, for me to quash rumors about the demolition of the former PEPCO building that stood right next to the IMF until a few days ago. No, it's absolutely not true that this was caused by a loose cannon planted within the World Bank. Dear Joe: Like you, I came to my position in Washington from the cloisters of a tenured position at a top-ranking American University. Like you, I came because I care. Unlike you, I am humbled by the World Bank and IMF staff I meet each day. I meet people who are deeply committed to bringing growth to the developing world and to alleviating poverty. I meet superb professionals who regularly work 80-hour weeks, who endure long separations from their families. Fund staff have been shot at in Bosnia, slaved for weeks without heat in the brutal Tajikistan winter, and have contracted deadly tropical diseases in Africa. These people are bright, energetic, and imaginative. Their dedication humbles me, but in your speeches, in your book, you feel free to carelessly slander them. (superscript: 2) Joe, you may not remember this, but in the late 1980s, I once enjoyed the privilege of being in the office next to yours for a semester. We young economists all looked up to you in awe. One of my favorite stories from that era is a lunch with you and our former colleague, Carl Shapiro, at which the two of you started discussing whether Paul Volcker merited your vote for a tenured appointment at Princeton. At one point, you turned to me and said, "Ken, you used to work for Volcker at the Fed. Tell me, is he really smart?" I responded something to the effect of "Well, he was arguably the greatest Federal Reserve Chairman of the twentieth century" To which you replied, "But is he smart like us?" I wasn't sure how to take it, since you were looking across at Carl, not me, when you said it. My reason for telling this story is two-fold. First, perhaps the Fund staff who you once blanket-labeled as "third rate"?and I guess you meant to include World Bank staff in this judgment also?will feel better if they know they are in the same company as the great Paul Volcker. Second, it is emblematic of the supreme self-confidence you brought with you to Washington, where you were confronted with policy problems just a little bit more difficult than anything in our mathematical models. This confidence brims over in your new 282 page book. Indeed, I failed to detect a single instance where you, Joe Stiglitz, admit to having been even slightly wrong about a major real world problem. When the U.S.Üeconomy booms in the 1990s, you take some credit. But when anything goes wrong, it is because lesser mortals like Federal Reserve Chairman Greenspan or then-Treasury Secretary Rubin did not listen to your advice. Let me make three substantive points. First, there are many ideas and lessons in your book with which we at the Fund would generally agree, though most of it is old hat. For example, we completely agree that there is a need for a dramatic change in how we handle situations where countries go bankrupt. IMF First Deputy Managing Director Anne Krueger?who you paint as a villainess for her 1980s efforts to promote trade liberalization in World Bank policy?has forcefully advocated a far reaching IMF proposal. At our Davos [World Economic Forum] panel in February you sharply criticized the whole idea. Here, however, you now want to take credit as having been the one to strongly advance it first. Your book is long on innuendo and short on footnotes. Can you document this particular claim? Second, you put forth a blueprint for how you believe the IMF can radically improve its advice on macroeconomic policy. Your ideas are at best highly controversial, at worst, snake oil. This leads to my third and most important point. In your role as chief economist at the World Bank, you decided to become what you see as a heroic whistleblower, speaking out against macroeconomic policies adopted during the 1990s Asian crisis that you believed to be misguided. You were 100% sure of yourself, 100% sure that your policies were absolutely the right ones. In the middle of a global wave of speculative attacks, that you yourself labeled a crisis of confidence, you fueled the panic by undermining confidence in the very institutions you were working for. Did it ever occur to you for a moment that your actions might have hurt the poor and indigent people in Asia that you care about so deeply? Do you ever lose a night's sleep thinking that just maybe, Alan Greenspan, Larry Summers, Bob Rubin, and Stan Fischer had it right?and that your impulsive actions might have deepened the downturn or delayed?even for a day?the recovery we now see in Asia? Let's look at Stiglitzian prescriptions for helping a distressed emerging market debtor, the ideas you put forth as superior to existing practice. Governments typically come to the IMF for financial assistance when they are having trouble finding buyers for their debt and when the value of their money is falling. The Stiglitzian prescription is to raise the profile of fiscal deficits, that is, to issue more debt and to print more money. You seem to believe that if a distressed government issues more currency, its citizens will suddenly think it more valuable. You seem to believe that when investors are no longer willing to hold a government's debt, all that needs to be done is to increase the supply and it will sell like hot cakes. We at the IMF?no, make that we on the Planet Earth?have considerable experience suggesting otherwise. We earthlings have found that when a country in fiscal distress tries to escape by printing more money, inflation rises, often uncontrollably. Uncontrolled inflation strangles growth, hurting the entire populace but, especially the indigent. The laws of economics may be different in your part of the gamma quadrant, but around here we find that when an almost bankrupt government fails to credibly constrain the time profile of its fiscal deficits, things generally get worse instead of better. Joe, throughout your book, you condemn the IMF because everywhere it seems to be, countries are in trouble. Isn't this a little like observing that where there are epidemics, one tends to find more doctors? You cloak yourself in the mantle of John Maynard Keynes, saying that the aim of your policies is to maintain full employment. We at the IMF care a lot about employment. But if a government has come to us, it is often precisely because it is in an unsustainable position, and we have to look not just at the next two weeks, but at the next two years and beyond. We certainly believe in the lessons of Keynes, but in a modern, nuanced way. For example, the post-1975 macroeconomics literature?which you say we are tone deaf to?emphasizes the importance of budget constraints across time. It does no good to pile on IMF debt as a very short-run fix if it makes the not-so-distant future drastically worse. By the way, in blatant contradiction to your assertion, IMF programs frequently allow for deficits, indeed they did so in the Asia crisis. If its initial battlefield medicine was wrong, the IMF reacted, learning from its mistakes, quickly reversing course. No, instead of Keynes, I would cloak your theories in the mantle of Arthur Laffer and other extreme expositors of 1980s Reagan-style supply-side economics. Laffer believed that if the government would only cut tax rates, people would work harder, and total government revenues would rise. The Stiglitz-Laffer theory of crisis management holds that countries need not worry about expanding deficits, as in so doing, they will increase their debt service capacity more than proportionately. George Bush, Sr. once labeled these ideas "voodoo economics." He was right. I will concede, Joe, that real-world policy economics is complicated, and just maybe further research will prove you have a point. But what really puzzles me is how you could be so sure that you are 100 percent right, so sure that you were willing to "blow the whistle" in the middle of the crisis, sniping at the paramedics as they tended the wounded. Joe, the academic papers now coming out in top journals are increasingly supporting the interest defense policies of former First Deputy Managing Director Stan Fischer and the IMF that you, from your position at the World Bank, ignominiously sabotaged. Do you ever think that just maybe, Joe Stiglitz might have screwed up? That, just maybe, you were part of the problem and not part of the solution? You say that the IMF is tone deaf and never listens to its critics. I know that is not true, because in my academic years, I was one of dozens of critics that the IMF bent over backwards to listen to. For example, during the 1980s, I was writing then-heretical papers on the moral hazard problem in IMF/World Bank lending, an issue that was echoed a decade later in the Meltzer report. Did the IMF shut out my views as potentially subversive to its interests? No, the IMF insisted on publishing my work in its flagship research publication Staff Papers. Later, in the 1990s, Stan Fischer twice invited me to discuss my views on fixed exchange rates and open capital markets (I warned of severe risks). In the end, Stan and I didn't agree on everything, but I will say that having entered his office 99 percent sure that I was right, I left somewhat humbled by the complexities of price stabilization in high-inflation countries. If only you had crossed over 19 (superscript: th) Street from the Bank to the Fund a little more often, Joe, maybe things would have turned out differently. I don't have time here to do justice to some of your other offbeat policy prescriptions, but let me say this about the transition countries. You accuse the IMF of having "lost Russia." Your analysis of the transition in Russia reads like a paper in which a theorist abstracts from all the major problems, and focuses only on the couple he can handle. You neglect entirely the fact that when the IMF entered Russia, the country was not only in the middle of an economic crisis, it was in the middle of a social and political crisis as well. Throughout your book, you betray an unrelenting belief in the pervasiveness of market failures, and a staunch conviction that governments can and will make things better. You call us "market fundamentalists." We do not believe that markets are always perfect, as you accuse. But we do believe there are many instances of government failure as well and that, on the whole, government failure is a far bigger problem than market failure in the developing world. Both World Bank President Jim Wolfensohn and IMF Managing Director Horst Köhler have frequently pointed to the fundamental importance of governance and institutions in development. Again, your alternative medicines, involving ever-more government intervention, are highly dubious in many real-world settings. I haven't had time, Joe, to check all the facts in your book, but I do have some doubts. On page 112, you have Larry Summers (then Deputy U.S.ÜTreasury Secretary) giving a "verbal" tongue lashing to former World Bank Vice-President Jean-Michel Severino. But, Joe, these two have never met. How many conversations do you report that never happened? You give an example where an IMF Staff report was issued prior to the country visit. Joe, this isn't done; I'd like to see your documentation. On pageÜ208, you slander former IMF number two, Stan Fischer, implying that Citibank may have dangled a job offer in front of him in return for his cooperation in debt renegotiations. Joe, Stan Fischer is well known to be a person of unimpeachable integrity. Of all the false inferences and innuendos in this book, this is the most outrageous. I'd suggest you should pull this book off the shelves until this slander is corrected. Joe, as an academic, you are a towering genius. Like your fellow Nobel Prize winner, John Nash, you have a "beautiful mind." As a policymaker, however, you were just a bit less impressive. Other than that, I thought it was a pretty good book. Sincerely yours, Ken (superscript: 1)(superscript: )Used as opening remarks at a June 28 discussion of Mr. Stiglitz's book at the World Bank, organized by the World Bank's Infoshop (superscript: )(superscript: 2)(superscript: )For example: "It was not just that IMF policy might be regarded by softheaded liberals as inhumane. Even if one cared little for those who faced starvation, or the children whose growth had been stunted by malnutrition, it was simply bad economics." Joseph Stiglitz,Globalization and Its Discontents, p 119.


From niels.boeing Tue Jul 30 08:08:19 2002
Subject: rot-grün_gewinnt?

Deutsch-Amerikanisches Forscherteam errechnet mit neuem Prognosemodell

45,9 Prozent für Rot-Grün / Neueste Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen berücksichtigt

Die rot-grüne Koalition wird bei der kommenden Bundestagswahl mit sehr geringem Vorsprung voraussichtlich stärkste Kraft im Deutschen Bundestag. Das prognostizieren Politikwissenschaftler der Universität Mannheim und der State University New York nach einer aktuellen Modellrechnung, die unter anderem auf den jüngsten Umfrageergebnissen der Forschungsgruppe Wahlen vom vergangenen Freitag beruht. Während alle großen Meinungsforschungsinstitute die rot-grüne Koalition derzeit nur auf Platz 2 mit 40 bis 42 Prozent sehen, sagen die Politikwissenschaftler einen Stimmanteil von 45,9 Prozent für SPD und Grüne voraus. Das bedeutet, dass unter Berücksichtigung der Fehlertoleranz Rot-Grün wahrscheinlich stärkste Kraft wird ,dass aber gleichzeitig aufgrund eines sehr geringen Vorsprungs zu CDU/CSU und FDP das Rennen um den Wahlsieg noch völlig offen ist.

Das neue Prognosemodell, das den Zweitstimmenanteil der Regierungsparteien vorhersagt, hat das Forscherteam bereits Ende Juni der =D6ffentlichkeit vorgestellt. Das Verfahren ist zugeschnitten für eine Prognose zum Zeitpunkt von zwei Monaten vor der Wahl. Zu diesem Zeitpunkt werden kurzfristige Faktoren der Wahlentscheidung auf Grundlage der aktuellen Umfrageergebnisse der Meinungsforschungsinstitute bestimmt. Darüber hinaus berücksichtigt das Modell für die Vorhersage auch mittel- und langfristige Faktoren der Wahlentscheidung, die sich bis zum Wahltag nicht mehr ändern werden.

mehr: http://idw-online.de/public/zeige_pm.html?pmid=3D51193

--------- wie hat schröder das wieder gedreht? fragt sich nbo


From fcbui Tue Jul 23 18:50:07 2002
Subject: Re: Netztod

Hi,

als Antwort darauf ein Artikel aus der heutigen SZ, der das doch ein wenig relativiert. Soweit ich weiss, war UUNET eigentlich zuletzt immer profitabel. Ich glaube indes nicht, dass das Netz in 15 Jahren weitgehend verschwunden ist. Es wird zweifelsohne andere Formen annehmen, aber eine gewisse Ubiquität wird meines Erachtens schon da sein. Ich denke, letztendlich schrumpft das Netz ähnlich wie so manches Unternehmen vielleicht gerade gesund, denn da wurde in den letzten Jahren so viel aufgebläht. Wie viel verwertbare Information in ein paar Jahren immer noch frei erhältlich im Netz ist, beziehungsweise welchen Wert die frei erhältliche Information dann noch haben wird, steht auf einem anderen Blatt. Ich bin auch sehr gespannt.

Viele Grüsse

Franz

Worldcom-Pleite

Das Netz soll halten

Über Worldcom-Leitungen fliesst die Hälfte des Internet-Datenverkehrs ñ Firma hält Störungen für ausgeschlossen

Von Walter Ludsteck

Gespannte Aufmerksamkeit herrschte Anfang des Monats bei vielen Internet-Anwendern. Was würde passieren, wenn das Pleite gegangene niederländisch-amerikanische Unternehmen KPNQwest, über dessen Glasfasernetz bis dato ein grosser Teil der europäischen Internet- Verbindungen abgewickelt wurde, den Schalter auf Aus stellen würde? In den Wochen zuvor war das Schlimmste befürchtet worden, doch als das Netz dann tatsächlich abgeschaltet wurde, waren die Störungen weitaus geringer als erwartet; E-Mails waren etwas länger unterwegs, Webseiten bauten sich langsamer auf. Die meisten Kunden hatten bereits vorgesorgt und sich einen anderen Netz-Zugang verschafft. Zum Beispiel über den US- Telekommunikationsriesen Worldcom.

Jetzt, da Worldcom Antrag auf Gläubigerschutz nach Kapitel 11 des US-Konkursgesetzes beantragt hat, stellt sich die Frage, ob diese Internet- Nutzer nicht vom Regen in die Traufe gekommen sind und ob nicht überhaupt dem weltweiten Internet-Verkehr erhebliche Beeinträchtigungen drohen. Denn über die Leitungen des in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Konzerns fliesst nach Expertenschätzungen rund die Hälfte des globalen Internet-Verkehrs. Rund 120000 Kilometer Glasfaser-Kabel Worldcoms und seiner Tochter UUNet verbinden rund um die Welt die wichtigsten Wirtschaftszentren miteinander. Teil dieser Infrastruktur ist auch ein 1997 verlegtes transatlantisches Glasfaserkabel zwischen New York und London. In Europa wird unter dem Namen Ulysses ein 14000 Kilometer langes Netzwerk betrieben, von dem 3100 Kilometer auf Deutschland entfallen. Ergänzt wird das Angebot durch weltweit 100 Stadtnetze, davon drei in Frankfurt/Main, Düsseldorf und Hamburg.

Würde dieses Übertragungsnetz gestört oder gar lahm gelegt, würde das nicht nur die 20 Millionen Worldcom-Kunden treffen, sondern noch viel mehr Internetnutzer. Denn auf die Leitungen des US-Konzerns greifen auch viele andere Telekommunikationsunternehmen zurück, sodass wiederum Millionen weiterer Anwender betroffen wären. Doch zumindest vorläufig scheint keine Gefahr zu bestehen, dass dieser Fall eintritt. Worldcom hat neue Kreditzusagen erhalten, die, glaubt man den Angaben von Firmenchef John Sidgmore, den Fortbestand für die nächsten neun bis zwölf Monate gewährleisten.

ÑDie internationalen Aktivitäten werden unverändert aufrecht erhaltenì, versichert auch Stephan Deutsch von der deutschen Worldcom-Tochter. Sinn des Gläubigerschutzes unter Chapter 11 sei es ja gerade, die Fortführung des Geschäftsbetriebs bei gleichzeitiger Neuordnung der Finanzen zu ermöglichen. Die 50000 deutschen Geschäftskunden des US-Konzerns ñ die Bedienung von Privatkunden wurde hier zu Lande vor eineinhalb Jahren schon aufgegeben ñ hätten deshalb keine Beeinträchtigungen zu befürchten. Ob diese Erklärungen die Klientel beruhigen, bleibt abzuwarten.

Bei der Insolvenz von KPNQwest hat sich gezeigt, dass die Kunden frühzeitig begonnen haben, nach Alternativen zu suchen. Nun sieht die rechtliche Situation für Worldcom zwar besser aus, doch eine gewisse Unsicherheit bleibt. Sie könnte die Internet-Nutzer veranlassen, aus Vorsicht den Service-Provider zu wechseln ñ und damit auch die Einnahmen Worldcoms ins Rutschen bringen. Eine solche Spiralbewegung könnte vielleicht doch die Leistungsfähigkeit des Internets tangieren. Allerdings ist auch hier der Fall KPNQwest lehrreich. Die Netz-Kapazitäten dieser Firma gingen nämlich nicht völlig verloren. Sie wurden grossenteils von ehemaligen Konkurrenten aufgekauft, die damit das eigene Angebot verstärkten. Zu vermuten ist, dass das bei einem Exit Worldcoms nicht anders wäre. Die Internet-Nutzer kämen auch dann wohl mit einem Schrecken davon.


From andre.schnoor Tue Jul 23 18:40:34 2002
Subject: Netztod

Nicht sehr ausführlicher, aber bezeichnender Artikel zum möglichen Aussterben des Internets:

http://www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,206309,00.html

Ich persönlich befürchte unterschwellig, dass das Netz in 10-15 Jahren fast wieder verschwunden sein wird. Es gibt einfach zu wenige Refinanzierungsquellen. Im B2B Bereich (Firmenanbindungen) wird dauerhaft etwas zu erwirtschaften sein, der Privatverkehr wird aber wohl draussen bleiben müssen - er zahlt nicht genug.

Mag sein, dass erst einmal die vielen Glasfasern - die ja schon in der Erde liegen - nun von einer Pleitefirma jeweils an die nächste mit immer weiter fallenden Preisen verkloppt werden. Irgendwann ist aber Schluss. Dann sind stellt sich heraus, dass der Unterhalt und die Modernisierung einer solchen Infrastruktur immer noch zu teuer für die spärlichen Umsätze ist.

Waren UUnet und Konsorten damals vor dem Boom eigentlich schon profitabel? Falls ja, gibt es wohl Hoffnung.

Andre


From lagohh Mon Jul 22 13:19:54 2002
Subject: US Szenarien ...

Interessanter Artikel zur politischen Doppelmoral der Amerikaner (naja - hatten wir ja schon in den letzten Monate einige Male Kyoto, Internat. Gerichtshof, ABC Waffen Sperrverträge etc. ... und beängstigendes Zukunftsszenario ... Wahnsinn http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,206079,00.html


From HaeggbergJohanna Thu Jul 11 09:35:55 2002
Subject: Re: Frauen_für_Familie_-_Männer_für_Karriere

"http://www.taz.de/pt/2002/04/25/a0122.nf/text.name,askG7tZfl.n ,1
taz 25.4.02 Welchen Wert hat die Schreibkraft?

http://www.taz.de/pt/2002/04/25/a0051.nf/text.name,askG7tZfl.n ,0
taz 25.4.02 Frauen verdienen mehr

http://www.taz.de/pt/2002/04/25/a0123.nf/text.name,askG7tZfl.n ,2
taz 25.4.02 "Das macht meine Frau zu Hause nebenbei"


From fcbui Wed Jul 10 15:22:37 2002
Subject: Brainfodder

Hi,

mal wieder ein interessanter Link: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/de/PGAInfos/about.htm

und ein ganz witziger Artikel aus der FR: unten.

Gruss

Franz

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Unter dem Rasen liegt der Strand

Wildwuchs (Teil 1): Die "Graswurzelrevolution" lässt sich seit 30 Jahren vom Siegeszug des Kapitalismus nicht beirren

Von Michael Ridder

Keine guten Zeiten für Revolutionäre: Der Sozialismus ist tot, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die parlamentarische Demokratie haben einen weltweiten Siegeszug angetreten. Die Systemfrage stellt längst niemand mehr. Niemand? Nicht ganz, denn wenn man genau hinschaut, findet man auch heute noch Zeitgenossen, die an die Möglichkeit einer tief greifenden Veränderung der Gesellschaft glauben, die nahezu jede freie Minute für ihre Sache opfern und dabei auch den Konflikt mit den Staatsorganen nicht scheuen. Aber wo findet man die bloss? Man sollte es kaum glauben: im westfälischen Münster. In der beschaulichen Beamtenhochburg wird die Monatszeitung Graswurzelrevolution (GWR) herausgegeben, die seit 1972 einen gewaltfreien Anarchismus propagiert, der das kapitalistische System durch "Macht von unten" in eine herrschaftslose Gesellschaft der Selbstverwaltung verwandeln soll. Das 30-jährige Bestehen feierten die Macher unlängst mit einem Party- und Kongresswochenende.

Ansätze zur Polit-Kritik sieht die Graswurzelrevolution auch in Zeiten, da eine rot-grüne Bundesregierung das Land führt - denn das Blatt und die dahinter stehende Bewegung verstehen sich als Kritik des Parlamentarismus überhaupt. Macht korrumpiert nach ihrer Theorie immer, weswegen sie die Parteien durch basisdemokratische Netzwerke ersetzt wissen wollen. Im aktuellen Doppelheft Sommer 2002 wird die bisherige Arbeit der Regierung Schröder komplett verrissen: "Kein Atomkraftwerk geht auch nur einen Tag früher vom Netz", "Polizei- und Überwachungsapparate werden aufgerüstet", "Deutschland führt Kriege", heisst es zur Begründung der "Keine-Wahl-Kampagne". Die Artikel sind lang, teilweise trocken geschrieben und mit Fussnoten versehen. Sie kommentieren das politische Geschehen im In- und Ausland aus konsequent systemkritischer Perspektive - seien es Bush-Besuch in Deutschland, brennende Synagogen in Frankreich oder Friedensverhandlungen in Kolumbien.

Auch organisatorisch ist bei der Graswurzelrevolution manches anders als bei herkömmlichen Zeitungen: Alle Redakteure fungieren gleichzeitig als Mitherausgeber. Und der Chefredakteur soll hier kein Chef sein - er heisst daher "Koordinationsredakteur" und wird, ebenso wie der Erscheinungsort, alle drei bis fünf Jahre gewechselt. Seit 1998 laufen die GWR-Fäden bei Bernd Drücke zusammen. Der 36-jährige promovierte Soziologe ist im Hauptberuf Lehrbeauftragter an der Uni Münster, aber die meiste Zeit steckt er in die Koordination der Graswurzelrevolution. "Das kann schon mal zu einer 60-Stunden-Woche führen", sagt Drücke, der im Stadtzentrum von Münster in einem ehemaligen Arbeiterhaus wohnt, mit Blockheizkraftwerk im Keller und Regenwasser-Auffanganlage auf dem Dach. Sein Büro liegt ein paar Meter weiter in derselben Strasse - ein etwa 20 Quadratmeter kleines Zimmer unterm Dach. Hier stapeln sich Literatur- und Zeitschriftenberge, hier befinden sich die beiden Computer, an denen Drücke im Alleingang die Artikel redigiert und das Layout der Zeitung gestaltet.

Redaktionssitzungen finden nur alle zwei Monate statt, immer an verschiedenen Orten in Deutschland. Der Hauptteil der Kommunikation läuft über das Internet und über das Telefon. Hat ein Autor eine Artikelidee, reicht er einen Entwurf bei Bernd Drücke ein, der diesen dann via Mail an die anderen Redakteure weiterleitet. Basisdemokratie radikal: Denn gibt es innerhalb der 20 bis 30 Redakteure, die über das ganze Bundesgebiet verteilt sind, auch nur eine einzige Stimme gegen die Veröffentlichung eines Artikels, dann muss diskutiert werden. Ausführlich. Drücke ruft in der Regel den Autor an, teilt die Bedenken mit, wägt die Positionen gegeneinander ab. Manchmal erscheint ein strittiger Artikel dann gar nicht, oder man behandelt das Thema in Form eines zweigeteilten Pro-und-Contra-Beitrages, wie kürzlich bei der Kontroverse um die Gründung eines Palästinenserstaates.

"Das ist so ein Beispiel, wo man mit guten Gründen sowohl die eine als auch die andere Position vertreten kann", meint Drücke, der die undifferenzierte Einseitigkeit als die grosse Schwäche der herkömmlichen "staatsnahen" Medien empfindet. Aber glauben die Graswurzelrevolutionäre wirklich, dass sie mit ihrer zuweilen als "Bleiwüste" karikierten Zeitung eine Chance haben, die auf inhaltslosen Christiansen-Smalltalk gedrillte breite Öffentlichkeit zu gewinnen? Bernd Drücke räumt ein, dass die GWR - die in einer Auflage von 4000 Stück erscheint und überwiegend von Abonnenten bezogen wird - zunächst nur Leser erreiche, die ohnehin die dort vertretenen Positionen teilten. Doch er setzt auf das Schneeballprinzip: "Ein guter Gedanke kann sich manchmal auf ungeahnte Weise weiterverbreiten."

Dabei scheint ihm bewusst zu sein, dass ein Projekt wie die GWR nur als Opposition funktionieren kann - als herrschendes Leitmedium würde sie sich schliesslich selbst ad absurdum führen. Die Notwendigkeit einer wirkungsvollen ausserparlamentarischen Bewegung sieht Drücke "grösser denn je", obwohl er es bemerkenswert findet, dass einige Bundestagsabgeordnete der PDS, der Grünen und sogar der SPD noch Abonnenten der GWR seien. Deutlich abgekühlt ist besonders das einst enge Verhältnis zu den Grünen: "Die sind ja im Grunde weder basisdemokratisch noch ökologisch noch sozial." Aber auch der PDS kauft Drücke ihr neues Friedens-Image nicht so recht ab: "Wenn die mit an der Regierung wären, würden die auch sofort staatstragend werden." Die nächsten 30 Jahre GWR können also anbrechen.

Serie "Wildwuchs": In loser Folge stellen wir aussergewöhnliche Zeitschriften vor.

[ document info ] Copyright © Frankfurter Rundschau 2002 Dokument erstellt am 09.07.2002 um 21:10:42 Uhr Erscheinungsdatum 10.07.2002


From andre.schnoor Wed Jul 10 13:20:19 2002
Subject: Re: Fehler im realexistierenden kapitalismus? - Ein ZEIT-Artikel

>>>die aufrechterhaltung von wettbewerb muss deshalb von einem parallelen system gesichert werden, nämlich dem politischen<<<

Absolut. Leider ist die Wirtschaft global, die Politik aber nicht. Politik braucht Druck von Innen um sich zu bewegen. Ein "Weltinnendruck" (stärkerte NGOs?) will erst einmal organisiert sein. Wie soll ein einfacher deutscher Angestellter zu seinem kleinen Beitrag motiviert werden, wenn es ihn offensichtlich nicht berührt? Die Auswirkungen globaler Entwicklungen auf den Alltag zu Hause versteht doch keiner mehr. Selbst über eigentlich einfache Rückkoppelungssysteme (Binnenkonjunktur) brechen regelmässig Glaubenskriege aus, weil es an genauem Wissen darüber fehlt oder weil es einfach unpopuläre Konsequenzen hätte.

Denn das Treiben einer elitären Denkerschicht - auch mit Unterstützung durch spektakuläre Ereignisse - kann den unglaublichen Druck der in der Geschlossenheit eines Landes entstehen kann auf globaler Ebene nicht annähernd nachbilden. Da gibt es niemanden der wiedergewählt werden will.

Mich erinnert das stark an meine Firma, wo es in Meetings in grosser Übereinstimmung immer genre mal heisst: "Das müsste dringend gemacht werden". Es werden mit Eifer Probleme identifiziert, aber lösen will sie dann keiner. Es bleibt regelmässig an mir hängen, zu entscheiden mit wieviel Zwang (auf Kosten des Betriebsklimas) ich die eigentlich selbstverständlichen Aufgaben verteile (wobei ich natürlich auch noch die Ergebnisse überwachen muss). Im globalen Massstab heisst das: Wenn es niemanden gibt der Druck machen darf, weil er legitim dazu ermächtigt wurde, dann bewegt sich nichts. Leider bewegt sich nicht viel in diese Richtung. Es scheint sich eher wieder das primitive Recht des Stärkeren durchzusetzen.

Nochmal zum Anfang: Möglicherweise fehlt noch ein drittes paralleles System, welches die Aufrechterhaltung eines Wertekanons - also ein Mindestmass an Freiwilligkeit in der Masse - sicherstellt. Die Religion hat ja etwas an Spannkraft verloren ...

Andre


From nboeing Wed Jul 10 12:03:17 2002
Subject: Re: Fehler im realexistierenden kapitalismus? - Ein ZEIT-Artikel

der artikel ist zwar sehr eloquent, aber so ganz klar wird mir nicht, was herr schmidt nun sagen will. es geht um freiheit, aber welchem freiheitsbegriff hängt er nun an? dem "natürlichen" von smith?

gegen ende heisst es: "...Ohne Ehrlichkeit und Transparenz wäre Smith' "System der natürlichen Freiheit" nur ein Oligopol des Informationsfeudalismus. Eine moderne demokratische Gesellschaft kann aber auf Dauer nicht auf die Überzeugung verzichten, das Reich der Freiheit existiere und stehe jedem offen..."

das ist doch der knackpunkt, über den wir bereits diskutiert haben: sind unehrlichkeit und intransparenz nur geschwüre des kapitalismus oder innewohnende eigenschaften? meines erachtens letztere, was im einklang mit der beobachtung einiger von uns steht, wonach die ausschaltung von wettbewerb ein wesensmerkmal des kapitalismus sei (die aufrechterhaltung von wettbewerb muss deshalb von einem parallelen system gesichert werden, nämlich dem politischen).

widerstand als "suche nach transzendenz" zu bezeichnen, finde ich ich etwas fatalistisch. da ist mir der optimismus von hardt & negri in ihrem riesen-opus "empire" schon lieber. unser problem ist doch, dass es uns zur zeit an phantasie mangelt, uns die grundzüge eines alternativen systems auszumalen. alle existierenden alternativen auf diesem globus (und da gibt es einige) scheinen uns unerheblich, da sie sich derzeit gegenüber dem kapitalismus nicht durchsetzen können. aber dann müssen wir doch fragen, was sind das für bedingungen? und könnten sie sich ändern?

das ist zumindest eine stärke der "empire"-theorie (die auch viele schwächen hat), dass sie den blick auf die bedingungen für erfolgreichen widerstand dort lenkt, wo alternativen im kleinsten massstab bereits/noch immer gelebt werden.

lasst uns doch mal in dieser richtung weiterdenken, anstatt den nebelkerzen von smith und schumpeter aufzusitzen, die mangels phantasie auch in diesem artikel wieder einmal bemüht wurden.

meint nbo


From andre.schnoor Tue Jul 9 20:23:38 2002
Subject: Re: Fehler im realexistierenden kapitalismus? - Ein ZEIT-Artikel

Es gibt für mich einen eindeutig identifizierbaren Grund für den globalen Moralverfall. Er liegt allerdings etwas verborgen im kollektiven Unterbewußten: Jeder ist sich gewiss, dass die Zivilisation nicht mehr lange existieren wird. Unsere Generation ist förmlich mit dieser Prämisse großgezogen worden. Das Panoptikum voller illustrer Antagonisten von Ozonloch bis Überbevölkerung kann sich im intergalaktischen Vergleich ja durchaus blicken lassen.

So einfach ist das: Morgen ist es vorbei, also schnell noch geplündert und nach mir die Sintflut.

Das Streben nach Reichtum - die Gier - ist ganz tief in der Seele verankert. Es ist der schmerzhafte Wunsch nach Sicherheit, Unverwundbarkeit, Unsterblichkeit. Wenn ich unendlich reich bin, kann ich die Verantwortung vor dem Leben auch unendlich vor mir her schieben. Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, mit den dramatischen Zwängen des Daseins (oder ökonomisch: Das Zurechtkommen mit begrenzten Resourcen) - ich vertage es immer wieder auf Morgen.

Da es aber kein Morgen, oder zumindest kein Übermorgen, mehr gibt (sagt mir mein Unterbewußtsein, meine Angst), muß ich schon heute unsterblich werden, koste es was es wolle. Rette sich wer kann. Den letzten beissen die Hunde.

Die stärkste Macht ist nicht die Lust. Es ist die Angst. Nicht die Lust auf mehr Geld, Macht oder Sex treibt Menschen an, sondern die Angst vor ihrer Sterblichkeit, Ohnmacht und völligen Bedeutungslosigkeit. So wie den Drogen nicht jener verfällt, der den körperlichen oder geistigen Genuß sucht, sondern der den Schmerz des Gewöhnlichen nicht ertragen kann.

Andre

P.S: Interessant wäre zu überlegen, was das Streben nach "Freiheit" in diesem Kontext bedeuten würde. Denn größte Sicherheit genießt man ja meist in der Unfreiheit :)


From Moritz Tue Jul 9 17:59:43 2002
Subject: Fehler im realexistierenden kapitalismus? - Ein ZEIT-Artikel

Hi all, in der aktuellen ZEIT ist ein sehr beachtenswerter Artikel über die derzeitigen Fehler des realexistierenden Kapitalismus. Lesenwerte Reflexion zu seiner Moral bzw Interpretation und das Problem der Freiheit (wenn heute nichts mehr ausserhalb ist von Kapitalismus, wohin könnte man dann noch befreiend hinstreben?). Halte ich für eine angemessene Diskussionsgrundlage. Gruss Moritz DIE ZEIT

Feuilleton 28/2002

Wenn das goldene Kalb bockt

Der Managerbetrug in Amerika erschüttert die Märkte, aber nicht den Kapitalismus. Seinen Kritikern bleiben nur ohnmächtige Gesten des Protests

von Thomas E. Schmidt

Solange die Menschen nachweisen, warum der Kapitalismus zusammenbrechen müsse, wird er leben. Solange das Wirtschaften auf freien Märkten nicht nur Angst und Empörung auslöst, sondern auch Hoffnungen weckt, sind die Kräfte seiner Erhaltung verlässlich - aus Gründen, die mit theoretischen Erwägungen nichts zu tun haben, eher mit Lebenspraxis. Seit 300 Jahren ist der Kapitalismus eine mächtige Realität, die das Dasein geradezu umpflügt. Anders als die Politik ist er aber kein mit historischer Absicht vorangetriebenes Grossgeschehen. Märkte organisieren sich selbst, und im Lauf der Zeit haben sie sämtliche Ansinnen abgeschüttelt, sie steuern zu wollen oder in eine von aussen herangetragene Zweckordnung einzufügen, die krude monarchische Selbstbereicherung ebenso wie die Zünfte und Stände, die Visionen faschistischer Staats- wie die sozialistischer Planwirtschaft. So ist der Kapitalismus auch seit 300 Jahren den Philosophen ein Gräuel. Er zeigt sich resistent gegen cartesianische Naturbeherrschungs- und Steuerungsfantasien, auch wenn sie in Gestalt von Theorien des moralischen Fortschritts oder als Prinzipienethik an ihn herangetragen werden. Der Kapitalismus ist nicht blosse Natur, scheint aber auch nichts Zivilisiertes zu sein, er wird von Interessen getrieben und bleibt doch ein Geschehen, er ist Quelle des Elends und des allgemeinen Wohlstands, kurz: eine höchst vieldeutige Tatsache in der Zeit - und deswegen auch Fläche für wechselnde kulturelle Projektionen. Heute werden die Epocheneinschnitte durch Bärenmärkte markiert. Ausverkäufe an den Börsen könnte man als rasende Depressionen moderner Gesellschaften bezeichnen, als Ausbrüche jäher Hoffnungslosigkeit. In einem gewaltigen Tosen soll die Zeit zum Stillstand gebracht werden, wo doch alles Wirtschaften mit der Zukunft rechnet. Der Anlass der Baisse ist meistens gering, aber weil ihre Wirkung so weit reicht, hinterlässt sie das Bedürfnis, ihr Zustandekommen zu verstehen. Wohlgemerkt, nicht nur als technisches, sondern auch als menschliches Geschehen. Der smarte Kapitalismus der Achtziger, ging er nicht am Hedonismus zugrunde? Die Clinton-Neunziger - hatte man nicht die Härten des Lebens vergessen? Jetzt, unter Bush, ist Rezession, der drohende Irak-Krieg vielleicht nur ein radikales Konjunkturprogramm, Big Money betrügt, und die ethische Minimalvoraussetzung kapitalistischer Wirtschaft, das Vertrauen, scheint verspielt worden zu sein. Als Deutung bisher das Übliche: die obligate A! pokalypse, Hoffnung, der alte Antileviathan möge endlich seine zerstörerischen Impulse auf sich selbst richten und von innen heraus bersten; auf der anderen Seite das Vertrauen, der Kapitalismus gehe - wie immer - aus der Niederlage gestärkt hervor und mobilisiere darin neue moralische Energien. Warum der Kapitalismus notgedrungen mit einer kulturellen Interpretation einhergeht, hat Adam Smith erklärt. Alle Akteure auf dem Markt, so sein Befund, folgten nur dem eigenen Vorteil, und wenn ein jeder dies ohne Einschränkung tun könne, ergebe sich daraus trotzdem ein wünschbarer Effekt: Produktivität, Verteilungsgerechtigkeit, Wohlstand. Das individuelle Handeln ist ohne teleologische Qualität und erfüllt in seiner Summe doch einen höchsten Zweck. Für diesen Hiatus prägte Smith die Metapher von der "unsichtbaren Hand". Die Absichten, die den Markt treiben, sind vom Ziel abgespalten, es herrscht eine objektive Verkennung, ein systemisch montierter moralischer Irrtum, jedenfalls öffnet sich über dem simplen Getausche ein Interpretationsspielraum. Seit je ist es ein ethischer. Die moralische Unverlässlichkeit der individuellen Freiheit wird von Smith nicht wegphilosophiert, sondern empirisch gerechtfertigt: Sind die Märkte frei, steigt der Wohlstand sichtbar. Weil das "System der natürlichen Freiheit" seine Leistungsfähigkeit immer wieder aufs Neue nachweisen muss, bleibt es auch Gegenstand des historischen Streits: ob Märkte in Wahrheit überhaupt Gutes wirken, und das auch noch in zureichender Weise, ob sie auf Dauer gelitten werden sollen oder nicht einer wahrhaftigen Rationalität weichen müssten. Der Kapitalismus wird niemals hinreichend gerechtfertigt sein, er ist gezwungen, seine Legitimation fortlaufend aus sich heraus zu erzeugen. Niemals im Gleichgewicht Das Dynamisch-Instabile am Kapitalismus beunruhigte 200 Jahre nach Smith auch den Ökonomen Joseph Schumpeter. Ein Gleichgewichtszustand sei undenkbar; auch wenn freie Konkurrenz und beste monetäre Bedingungen herrschten, könne sich der Kapitalismus nie in einem dauerhaften Optimum einpendeln. Seine Funktionsweise sei ein "Prozess der schöpferischen Zerstörung", eine beschleunigte Evolution, die beständig Strukturen demoliere und neu bilde, durch Rationalisierungen, neue Produkte,Transport- und Kommunikationswege. Schumpeters Pointe: Auch die immateriellen Bedingungen der Marktwirtschaft, ihre mentalen und kulturellen Voraussetzungen, würden von diesem Prozess erfasst, sodass der Kapitalismus den Grund, auf dem er ruht, fortwährend unterminiert. Von der Widerständigkeit des Kapitalismus als Organisationsform war Schumpeter überzeugt, nicht jedoch von der Widerständigkeit seiner politisch-kulturellen Legitimation. In den Jahren vor seinem Tod 1950 hielt er den Sieg des Sozialismus, also die Ausmerzung individueller Freiheit durch staatlichen Kollektivismus, für unvermeidlich. In Gestalt der Sowjetunion hatte der Kapitalismus einen äusseren Feind. Die Alternative der politischen Regulation des Marktes existierte, sie erschien kulturell attraktiv und verfügte über viele Divisionen. Das ist vorbei. Die Bedrohungen des Kapitalismus steigen heute aus ihm selbst hervor, aus dem siegreichen, alternativlosen Ganzen. Die jüngsten Kataklysmen der globalen Marktwirtschaft, Asien-Krise, Überschuldung Lateinamerikas, das Elend Schwarzafrikas, jetzt das Kartell der Lüge von Vorständen, Analysten und Wirtschaftsprüfern an der Wall Street, all das ist schlimm, spricht aber nicht mehr für etwas anderes. Mit Blick auf Asien kann man heute mit gleichem Recht die unverwüstliche Reinigungskraft des Kapitalismus preisen, wie mit Blick auf Afrika behaupten, die kapitalistische Apokalypse sei längst eingetreten. Und wo kein Kollektivismus mehr droht, kann offenbar auch die individuelle Freiheit nicht mehr aus sich genügend Evidenz erzeugen, dass sie ein bewahrens- und schützenswertes Gut ist. Sie hinterlässt vielmehr kulturellen Ekel. Das Leben unterm Liberalismus scheint für viele unerträglich zu sein - wo jeder sich bereichern darf, jeder alles sagen, alles forschen. Für die individuelle Freiheit spricht dann nur noch ein funktionalistisches Argument: die statistische Korrelation zwischen Marktwirtschaft und freiheitlicher Demokratie. Eine kapitalistische Wirtschaft stabilisiert den freiheitlichen Rechtsstaat, wie auch dessen Regularien den allgemeinen Wohlstand befördern. Das ist kein Gesetz, aber eine hohe Wahrscheinlichkeit. Nicht alle kapitalistischen Staaten sind Demokratien, aber alle freiheitlichen Demokratien sind marktwirtschaftlich organisiert. Man könnte sagen, Märkte realisieren das Mass an Kontingenz, das Staaten zulassen müssen, wenn sie Freiheitlichkeit sichern wollen. Chancengleichheit beim Verfolgen eigener Interessen sowie faire Preise sind die Voraussetzungen individueller Vorsorge, von Versuchen, die eigene Situation zu verbessern und diejenige der Nachkommen. Ohne die Möglichkeit persönlicher Kalküle könnte eine Gesellschaft die Dimension der Zukunft nicht integrieren, die risikolose Gesellschaft wäre eine stagnierende. Totalität ohne Alternative Die Aussicht, durch eigene Tüchtigkeit die Zukunft zu gestalten, gehört zu den wichtigsten Legitimationsquellen der Demokratie. So hat der amerikanische Präsident nach dem Worldcom-Desaster nachdrücklich an die Selbstreinigungskräfte der Marktwirtschaft appelliert, die auch dann unverzichtbar sind, wenn die staatliche Kontrolle über die Finanzmärkte verschärft wird. Ohne Ehrlichkeit und Transparenz wäre Smith' "System der natürlichen Freiheit" nur ein Oligopol des Informationsfeudalismus. Eine moderne demokratische Gesellschaft kann aber auf Dauer nicht auf die Überzeugung verzichten, das Reich der Freiheit existiere und stehe jedem offen. Und während sich die Vereinigten Staaten - trotz berechtigter Erbitterung - den Optimismus in dieser Sache auf lange Sicht nicht rauben lassen, scheint Europa in eine Art elegischen Antiillusionismus verfallen zu sein: Freiheit führe am Ende in einen Strudel aus Missbrauch und Massenbetrug, Entzivilisierung und Werteverfall. Dem globalen Kapitalismus entkommt niemand mehr. Die Auswirkungen von Konjunkturzyklen und Indexständen sind in jeder gesellschaftlichen Nische spürbar geworden. Es gibt kein "Jenseits" des Kapitalismus, und deswegen existiert auch keine echte Lust mehr an seinem Untergang. In dieser Situation wächst ein unstillbares Verlangen nach Transzendenz. Dem ökonomischen Gehäuse ist nicht zu entkommen. Auch die Organisationen der politischen Linken, Parteien oder NGOs, kranken ja daran, das System nur noch als Teil desselben kritisieren zu können. Auch die Kunst markiert nicht länger ein "aussen". Beinahe unmöglich, Gesten der Transgression zu erfinden, die Respekt abnötigen. Nur die ganz Jungen wählen das Risiko, die existenzielle Erfahrung. Sie suchen die gewaltsame Konfrontation mit den Schutzmächten der westlichen Welt, als brauchten sie das Gefühl, mit dem Kopf an den Rand des Gehäuses zu stossen. In einer ökonomisch-politischen Totalität ohne Alternative richtet sich die Freiheitsvermutung nicht länger auf den Markt. Was Freiheit "eigentlich" sei, was sie noch wirke oder nicht mehr leiste, wird strittig. Jeder kämpft um sie mit eigenen Mitteln. In ihrer Schwundform ist Freiheit am Ende nur noch körperliches Empfinden, Existenzgefühl: mein Widerstand.

http://www.zeit.de/2002/28/Kultur/print_200228_kapitalismus.html


From niels.boeing Fri Jul 5 15:44:19 2002
Subject: korrektur neues...

ich schlauberger hatte eine adresse falsch angegeben:

http://www.km21.org/capital/stiglitz-buch_0502.htm

ich hatte 0602 geschrieben


From niels.boeing Thu Jul 4 13:03:59 2002
Subject: Frauen_für_Familie_-_Männer_für_Karrie?

für alle, die sich noch an unsere debatte letztes jahr über familie,

arbeit & ideale erinnern:

Presseinformation

Frauen für Familie - Männer für Karriere?
Frauen ziehen Familie der Karriere vor; Männer stellen ihren Beruf seltener hinter die Partnerschaft

Bad Homburg, 04. Juli 2002. Während 70 Prozent der Frauen ihre Familie

wichtiger als ihre Karriere finden, sehen gerade mal 44 Prozent der Männer in der Familie ihren Lebensmittelpunkt. Dies ergibt eine Umfrage vom Karriereportal jobpilot.de unter 1098 Männern und Frauen.

Aber auch in der gegenseitigen Unterstützung kommen Mann und Frau nicht auf einen Nenner: Von den weiblichen Teilnehmern kann sich knapp die Hälfte vorstellen, dem Partner bei seinem Werdegang zur Seite zu stehen und dafür selber beruflich zurückzustecken. Zu diesem Schritt erklären sich von den männlichen Befragten lediglich 16 Prozent bereit. Gleiches gilt für den Wohnortwechsel. 63 Prozent der Frauen sehen es als selbstverständlich, für den Partner die Stadt zu wechseln. Hingegen erwägen bloß 18 Prozent der Männer für die Partnerin umzuziehen.

Unter den Teilnehmern der Umfrage befinden sich 438 Frauen und 660 Männer, knapp 2/3 der Befragten sind zwischen 26-40 Jahre. Angestellte ohne Leitungsfunktion und Assistenten stellen mit 420 Personen den größten Anteil in der Umfrage dar, darauf folgen 234 Berufsanfänger und Trainees sowie 242 Gruppen-, Team- oder Projektleiter. Der Rest verteilt sich auf Abteilungs-, Bereichsleiter und Geschäftsführer beziehungsweise Vorstände.


From niels.boeing Wed Jul 3 18:55:07 2002
Subject: neues auf www.km21.org

hallo meine lieben,

es gibt wieder ein paar neue texte, die ihr auf der startseite http://www.km21.org findet:

- ulrike über die kritik von ex-weltbank-ökonom joseph stiglitz am IWF, die dieser in seinem buch "schatten der globalisierung" formuliert hat (http://www.km21.org/capital/stiglitz-buch_0602.htm)

- jens über eine schöne alternative zu den blöden instant-messaging-programmen von AOL, microsoft etc., nämlich "jabber", und über die bewegung dahinter (http://www.km21.org/bitland/jabber_0602.htm)

- der hamburger kriminologe sebastian scheerer war so nett, mir einen text über den unsinn der gegenwärtigen drogenpolitik zu überlassen, die er für die letzte bastion der planwirtschaft hält (http://www.km21.org/ueberlegungen/drogen_0302.htm)

- und last but not least einen text von peter glaser (der übrigens gerade den bachmann-preis bekommen hat), "das dotcom-delirium", der leider dem ende der WOCHE zum opfer fiel, aber jetzt jedenfalls bei uns zu lesen ist (http://www.km21.org/bitland/dotcomdelirium_0302.htm)

ansonsten sitze, nein schwitze ich eher über dem angekündigten globalisierungsdossier. es wird in jedem work in progress werden, bei dem vielen material. wer dazu noch meinungen, texte, essays etc. hat, am besten selbstgeschriebene, möge sie mir schicken.

und auch sonst kann ich euch nur ermutigen, texte von euch zu schicken oder gedanken aufzuschreiben. wir leben ja schliesslich in bewegten zeiten. her mit den manifesten!

macht's gut, euer niels


© 2003 km 21.0